Warum zeichnen wir Porträts?
Als Menschen ist es Teil unserer Natur, überall Augen und Gesichter zu erkennen. Astknoten, Fenster in einer verlassenen Häuserfront, sogar der Mond… Unser Gehirn versucht, ständig die vertrauten menschlichen Augen und Münder aus seinem Alltag zu sehen. Daraus stammt der moderne Erfolg von „Smileys“ und Emojis, die maximale Simplifizierung dieses Konzepts: Man braucht wirklich nicht viele und komplexe Zeichen, um ein Gesicht und sogar eine Emotion wahrzunehmen.
Aufgrund dieser natürlichen Hervorhebung des menschlichen Gesichts ist es alles andere als erstaunlich, dass Porträts eines der beliebtesten Themen sowohl bei Anfänger*innen als auch bei erfahrenen Künstler*innen sind. Man wird sich beim Zeichnen eines Gesichts kaum langweilen. Und Auge in Auge mit einem porträtierten Gesicht zu stehen, ist eine Erfahrung, an die wir heutzutage gewöhnt sind, die aber in der Vergangenheit – vor der Erfindung der Fotografie – noch eindrucksvoller war.
Was meine ich mit dieser Überschrift? Die bestqualifizierte Person, um dies zu erläutern, ist die Kunsthistorikerin Shearer Carroll West. So beschreibt sie die Porträtkunst auf Seite 21 ihres Buchs „Portraiture“ (Oxford University Press, 2004):
„Beim Versuch, die Komplexität der Porträtkunst zu entschlüsseln, ist es nützlich, drei Faktoren zu berücksichtigen: Zunächst einmal können Porträts auf einem Kontinuum zwischen der Spezifität der Ähnlichkeit und der Allgemeinheit des Typs eingeordnet werden. Sie zeigen sowohl spezifische und charakteristische Aspekte der dargestellten Person als auch die allgemeineren Eigenschaften, die in deren sozialem Milieu geschätzt werden.
Zweitens stellen alle Porträts etwas über den Körper und das Gesicht einerseits und die Seele, den Charakter oder die Tugenden der dargestellten Person andererseits dar.
Diese beiden ersten Aspekte beziehen sich auf die Porträtkunst als eine Form der Darstellung, doch ein dritter Aspekt bezieht sich mehr auf die Prozesse der Auftragsvergabe und Produktion. Alle Porträts beinhalten eine Reihe von Verhandlungen – oft zwischen dem Künstler und der dargestellten Person, aber manchmal gibt es auch einen Auftraggeber, der nicht im Porträt selbst enthalten ist. Der Einfluss dieser Verhandlungen auf die Praxis der Porträtkunst muss ebenfalls berücksichtigt werden.”
Also könnten wir uns bei der Produktion von Porträts drei Hauptaspekte vorstellen, die aus der komplexen Interaktion von je zwei Faktoren bestehen:
1. Spezifische Ähnlichkeit ---------- Allgemeinheit des Typs
2. Darstellung des Gesichts --------- Darstellung der „Seele“
3. Vorstellungen des Künstlers --------- Vorstellungen des Auftraggebers
Diese Konzepte haben die Macht, uns viel über unsere Lieblingsporträts zu erzählen – aber auch über unsere eigenen Werke.
Wie alt ist die Porträtkunst wirklich?
Im Jahr 2006 wurde in der französischen Grotte von Vilhonneur ein mögliches Porträt entdeckt, das ungefähr 27.000 Jahre alt sein soll. Es bleibt unklar, ob es sich dabei wirklich um ein Porträt eines menschlichen Gesichts handelt, und auf diese Frage wird es vielleicht nie eine eindeutige Antwort geben. Jedoch ist eines klar: Wenn wir uns die Form des Steins und die einfachen Striche anschauen, fällt es uns überhaupt nicht schwer, darin einen anderen Menschen zu erkennen.
Definitiv etwas detaillierter als die rätselhafte prähistorische Darstellung sind die berühmten Fayumporträts: Zwischen 30 vor Christus und dem 3. Jahrhundert nach Christus wurden diese Porträts überall in Ägypten – aber vor allem im Fayyum-Becken – auf Holztafeln in die Umhüllungen von Mumien gemalt. Die ägyptische Tradition der Mumifizierung und zahlreiche Einflüsse der altrömischen Kunst und Kultur vereinten sich in Ergebnissen von mächtigem Naturalismus, die uns noch heute einen Blick auf das Leben dieser vor 2000 Jahren lebenden Menschen werfen lassen. Je nach Stil und Fertigkeit des Künstlers können diese Porträts in unseren Augen äußerst modern erscheinen!
Da wir innerhalb dieses kurzen Artikels natürlich nicht nach einer vollständigen Geschichte der Porträtmalerei streben können, machen wir gleich einen weiteren Sprung nach vorne, um uns wieder eine andere Art des Porträts anzuschauen, die nicht unbedingt so naturalistisch ist wie die des Fayyums: Kennt ihr schon die verblüffenden Porträts des Malers Giuseppe Arcimboldo aus Mailand? Hier unten sind sowohl sein Selbstbildnis (links, 1570) als auch sein Porträt des Kaisers Rudolf II (rechts, 1591) zu sehen.
Nicht allein aufgrund der Tatsache, dass Rudolf II mehrmals von zahlreichen Malern portraitiert wurde, können wir mit Sicherheit ausschließen, dass er genau so wie im Gemälde von Arcimboldo aussah 😉 Dabei handelt es sich um eine allegorische Darstellung, die zahlreiche Assoziationen mit sich bringt: Eine davon ist die Identifizierung mit dem etruskisch-römischen Gott der Veränderung, Vertumnus. Darüber hinaus könnte die schöne Zusammensetzung aus unterschiedlichen, separaten Teilen als Sinnbild für die Harmonie des breiten Heiligen Römischen Reiches gelesen werden.
Wenn wir uns also an den obengenannten Definitionen von Shearer West orientieren, könnten wir sagen, dass das Porträt von Rudolf II auf sehr kreative Weise eher einen Typ und eine Seele darstellt als das spezifische Gesicht des Kaisers.
Also, in einem Porträt stecken häufig viele Deutungsebenen und viel Symbolismus. Tatsächlich kann man oft Einfachheit und Eindeutigkeit vergessen – auch in der Kunst!
Wir kommen jetzt zum letzten Teil dieses Beitrags: Wenn du in die Welt der Porträtzeichnung starten möchtest, solltest du eine Zeichnung messen und strukturieren können. Wichtig ist also, dass du dein Modell beobachtest und die Proportionen des Gesichts richtig messen kannst. Das erfolgt sowohl durch ein trainiertes Auge als auch durch eine sorgfältige Strukturierung auf dem Papier mit Linien und vereinfachten Formen. Dadurch stellst du sicher, dass alle Gesichtszüge in deiner Zeichnung richtig platziert sind, bevor du mit der aufwendigen Schattierung anfängst.
Dieser Schritt ist entscheidend, nicht nur für Anfänger, sondern auch für erfahrene Künstler! Der berühmte Porträtist Oliver Sin, zum Beispiel, zeigt seine Arbeitsweise Schritt für Schritt in seinem Buch „Drawing the Head for Artists: Techniques for Mastering Expressive Portraiture“ und betont dabei die Bedeutung einer sorgfältigen Strukturierung. Mehr über diese grundlegende Fähigkeit kannst du im LIVARTO-Artikel „Zeichnen lernen für Anfänger | Form & Proportion | Einfache Techniken“ lernen.
Gute Fähigkeiten im Zeichnen sind also eine Voraussetzung für realistische Porträts (aber nicht unbedingt für andere Arten von expressiven Porträts! Der Kreativität sind keine Grenzen gesetzt). Diese Fähigkeiten kannst du dir auch alleine aneignen, aber der Weg des autodidaktischen Künstlers ist lang und meistens ineffizient, da es an Struktur und einem klaren roten Faden mangelt. Und ja, selbst die großen Meister haben von anderen Meistern gelernt 😉
Wenn du also das Zeichnen schnell und in guter Gesellschaft lernen möchtest, solltest du uns bei LIVARTO besuchen! LIVARTO ist Deutschlands Nr. 1 Online-Zeichen-Coaching für Anfänger und leicht Fortgeschrittene. Hier lernst du das A und O des Zeichnens - und selbstverständlich sind Porträts und deren sorgfältigen Strukturierung ein wichtiger Meilenstein unseres Zeichenkurses.
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